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Erkundungen in der neuen Welt des Journalismus

Beispiel 2: Die Community-Schmiede
Dr. Alexandra Föderl-Schmid, Chefredakteurin Der Standard und derStandard.at

Anmoderation Ingrid Scheithauer:
Alexandra Föderl-Schmid ist Chefredakteurin und Mitherausgeberin von Der Standard und DerStandard.at. Sie war Korrespondentin für ihre Zeitung – u. a. in Deutschland. Seit 2007 führt sie die Redaktion der Wiener Zeitung. Sie engagiert sich vielfach für Qualitätsjournalismus und Selbstregulierung. Und wir freuen uns, dass Sie hier sind.

Alexandra Föderl-Schmid:
Ich war insgesamt zwölf Jahre Korrespondentin in Deutschland und auch Vorsitzende des Vereins der ausländischen Presse, 1999 im Jahr nach der Gründung übrigens die erste Frau. Mittlerweile sind einige Kolleginnen nachgefolgt. Ich bin jetzt Chefredakteurin und Co-Herausgeberin von der in Wien erscheinenden Tageszeitung Der Standard und des Online-Angebots DerStandard.at. Wie erwähnt, ist Der Standard eine Zeitung, die 1988 gegründet wurde, und wir versuchen eine Multi-Channel-Strategie zu leben. Wir versuchen nicht nur den Weg im digitalen Bereich zu bestreiten, sondern auch unser Print-Produkt mitzudenken und mit zu leben. Unsere Zeitung erscheint im Berliner Format, für deutsche Verhältnisse ein relativ kleines Format. Wir haben uns vor drei Jahren von der Welt Kompakt etwas abgeschaut und den Standard Kompakt gegründet. Allerdings anders als die Welt Kompakt ist es leidglich eine Best-of-Ausgabe, die nachgelagert produziert wird und keinen anderen Inhalt als Der Standard hat, sondern halbes Format, halber Preis, halber Inhalt. Das funktioniert sehr gut. Seit dem 02. Februar 1995 gibt es DerStandard.at und einige Ableger dazu – die mobile Verbreitung beschäftigt uns mehr und mehr.

1998 ist der Süddeutsche Verlag bei uns eingestiegen. Das ist deshalb erwähnenswert, weil damals deren Geschäftsführer der Meinung waren, Online würde nie funktionieren. Das hat dazu geführt, dass der Online-Bereich abgespalten und eine eigene AG gegründet wurde. Das hat unseren Online-Kolleginnen und -Kollegen und vor allem Gerlinde Hinterleitner, die in unserem Haus die Pionierin war, geholfen, einen eigenen Weg zu entwickeln und sich unabhängig zu entfalten, was sicherlich unter den Fittichen von Print so nicht möglich gewesen wäre. Das muss man ehrlich sagen. Allerdings haben wir bald gemerkt, dass die beiden Bereiche immer mehr auseinanderdriften. Es gab ja auch die räumliche Trennung. Deshalb wurden nach dem Umzug in ein gemeinsames Gebäude im Sommer 2013 die Bereiche zusammengelegt. Das war durchaus das, was man „clashes of the culture“ nennt, ist es zum Teil noch immer. Aber es ist möglich, die beiden Bereiche zusammenzubringen. Es ist ein bisschen wie die deutsche Wiedervereinigung: Es dauert! Schnell kann man die Mauern nicht abreißen, aber wir sind auf einem guten Weg. Organisatorisch heißt das: Die Zusammenlegung von Anzeige, Redaktion, Marketing und, das ist ein weiterer wichtiger Punkt, der eine Rolle spielen wird, eines eigenen Bereichs, UGC (User Generated Content).

Wir haben seit der Gründung der Zeitung sehr viel Wert auf die sogenannte Leser-Blatt-Bindung gelegt und das dann aber auch im digitalen Zeitalter gepflegt durch den Bereich UGC. Als ich im Jahr 2007 in die Chefredaktion kam, habe ich einen Leserbeauftragten berufen, einen Public Editor, wie er im angelsächsischen Bereich heißt. Ein Kollege, der sich um die Anliegen der Leser und Leserinnen kümmert und, das ist auch Praxis unseres Hauses, wir haben einen sehr direkten und persönlichen Kontakt zu den Nutzerinnen und Nutzern. Viel läuft über E-Mail. Ich selbst bekomme zwischen 500 und 600 Mails pro Tag, ein beträchtlicher Teil davon ist noch immer Leserkommunikation, und ich beantworte auch alles selbst. Alles, was nicht zum Weiterleiten ist. Ich bearbeite wirklich täglich mehrere Dutzend E-Mails und gehe auf die Anliegen ein. Ich glaube, das lohnt sich, und noch schaffe ich es auch.

Etwas, was auch seit Gründung des Standard 1988 zur Erfolgsgeschichte gehört: Wir sind sehr präsent an den Universitäten. Es gibt mehrmals im Jahr eine Uni-Beilage, die werbemäßig gut gebucht ist und die von Studierenden selbst geschrieben wird. Wir haben auch intensive Verteil-Aktionen an den Universitäts- und Fachhochschul-Standorten. Das führt dazu, dass wir sehr viele Abonnenten im Printbereich aus dem Uni-Sektor bekommen. Das ist etwas, was wir seit vielen Jahren machen, und ich glaube, der Erfolg gibt uns Recht. Wir fangen auch schon mit jüngeren Leserinnen und Lesern an, es gibt eine Schülerredaktion und die Kolleginnen und Kollegen kommen meistens aus Seminaren, die wir abhalten. Journalist für zwei Tage, das sind Seminare, die wir in den Ferien abhalten. Da merkt man übrigens, dass es junge Talente gibt, die zum Teil den Weg bis zum Redakteur/Redakteurin durchmarschieren. Das ist etwas, bei dem auch ich selbst mich immer für ein paar Stunden zur Verfügung stelle. Auch das, glaube ich, ist wichtig.

Diesen Bereich – enger Kontakt mit den Leserinnen und Lesern – haben wir auch auf den Bereich Community umgelegt. Wir waren angeblich auch die ersten, die ein Forum im deutschsprachigen Raum eingerichtet haben, in Österreich wird der Begriff Postings, Leserkommentare, verwendet. Seit 1999 gibt es das bei uns, später wurden Live-Berichte und Chats eingeführt und wir haben eine Software entwickelt, gemeinsam mit einem Institut für Artificial Intelligence. Das ist der Foromat, der seit Februar 2005 aktiv ist und Postings mit Hilfe künstlicher Intelligenz durchforstet und aussortiert. Aber es ist so, dass die Userinnen und User cleverer werden; es kommt auch auf den Kontext an, in dem man gewisse Worte verwendet. Ich mache jetzt einen Sprung in die Gegenwart: Wir wissen, dass wir beim Foromat nachbessern müssen. Und die Weiterentwicklung dieser Software war ein Projekt, das wir bei Google‘s Digital News Initiative eingereicht haben. Wir haben von den 258.000 Euro, die nach Österreich gegangen sind, 208.000 Euro bekommen, um die Software für den Foromat weiter zu entwickeln. Ganz ehrlich: Mit so viel Geld haben wir nicht gerechnet. Es ist ein sehr spannendes Projekt, weil dieses Ding in der Form bisher nur bei uns so funktioniert.

Seit 2013 gibt es, wie erwähnt, den Bereich UGC mit eigenen Beiträgen von Userinnen und Usern, mit eigenen Community Managern. Bis dahin hatten die Redakteurinnen und Redakteure die Pflicht, selbst die Leserkommentare durchzuschauen und nicht Adäquates zu löschen. Das haben wir jetzt ausgelagert; es gibt also jetzt eine eigene Abteilung, die sich nur mit diesen Sachen beschäftigt und auch wie die Redaktion Schichtdienst hat, sprich von 05:30 Uhr bis Mitternacht ist immer jemand da und schaut sich die Kommentare an. Live-Berichte ist ein Format, das in Österreich ziemlich gut funktioniert, nicht nur bei Sportthemen. Etwas, was auch sehr stark, wie man an den Zahlen sieht, zur Bindung an die Marke, an das Medium beiträgt. Wir haben zwischen 22.000 und 27.000 Leserkommentare pro Tag, das ist ein sehr hoher Wert, die New York Times hat rund 10.000.

Derzeit sind die Zahlen der Kommentare noch beträchtlich höher, die Flüchtlingskrise emotionalisiert, das spielt sich auch auf den Foren ab und trägt dazu bei, dass die Arbeit für die Kolleginnen und Kollegen anstrengender geworden ist. Rekordwert war ein Live-Bericht, der 45.000 Postings nachzog, das war in der Nacht von Freitag auf Samstag, es war der 6. September 2015, als die Grenze zwischen Österreich und Ungarn geöffnet wurde, nachdem Angela Merkel die berühmten Worte gesprochen hat. Es war aber nicht an diesem Tag, sondern interessanterweise am Dienstag danach. Mit ein paar Tagen Verzögerung ist das Thema auch stärker in Österreich präsent gewesen, und das zeigt sich bei den Postings.

Auch der European Song Contest war einer der Spitzenreiter, als Conchita Wurst im Jahr 2014 gewonnen hat. Da hat es binnen weniger Stunden 15.000 Postings nur zu diesem einen Event gegeben. Im Jahr danach war die Hoffnung in Österreich ausgeprägt, dass es wieder eine gute Platzierung geben könnte, Deutschland und Österreich sind beide auf dem letzten Platz gelandet, was aber noch mehr Postings bewirkt hat, vielleicht gerade aus Enttäuschung. Fußball zieht auch, seit wir in Österreich in dieser Sportart aus eigenem Antrieb den Sprung in Richtung Europameisterschaft geschafft haben. Nicht nur Skifahren interessiert.

Noch etwas zu dem bekannten Phänomen, was sich im Netz negativ abspielt und was gelöscht werden muss: 75 Prozent werden automatisch freigeschaltet durch den Foromat, 25 Prozent müssen manuell moderiert werden. Generell moderieren wir alle Postings bei Todesfällen. Wir haben einige Erfahrungen gemacht, die uns zu der Entscheidung gebracht haben, dass jeder Kommentar, der unter einem Bericht steht, der einen Todesfall behandelt, vorher gecheckt wird. Sieben Prozent der Postings werden durchschnittlich gelöscht, das ist ein relativ niedriger Wert. Laut der Zahlen des Weltverbandes der Zeitungen und Nachrichtenmedien WAN IFRA von 2013 geht man von zehn Prozent aus.

Wie viele Leser sind wirklich aktiv dabei? Es gibt viele, die Leserkommentare nur passiv verfolgen, aktiv sind 1,8 Prozent. Es gibt eine sogenannte Ein-Prozent-Regel, die ist in unserem Fall ein bisschen überschritten. Bei den Live-Berichten sind die Zahlen mit acht bis fünfzehn Prozent deutlich höher. Dazu gehören spannende Fußball-Matches oder der Opernball, der zieht jedes Jahr. Da sind viele gern live dabei und teilen ihre Meinung mit.

Die Spitzenreiter der Postings während eines Jahres sind Sport, Panorama, International. Der Live-Ticker am Montagabend vom EU-Gipfel in Brüssel, der lange gedauert hat, hatte mit 9.872 Postings eine relativ große Resonanz. Oben auf unserer Seite ist der Aufmacherbereich, hier sieht man einen Sonderbericht wegen des Frauentages und dann kommen gleich die Userkommentare, die farblich gekennzeichnet sind, um klar zu machen, dass es keine journalistischen Beiträge sind, sondern Beiträge von Leserinnen und Lesern. Da gibt es die Varianten: Userartikel, Userkommentare, Userblogs. ‚Mitmachen‘ ist auch ein Format, das gut funktioniert.

Wir haben eine eigene Seite ‚Community‘. Da sieht man, dass unsere Kollegen relativ häufig Stellung nehmen zu Fragen, die immer wieder kommen. Hier gibt es einen Überblick, was die lustigsten Postings waren. Im Community update sieht man, wie viele Kommentare gelöscht werden, da haben dann wieder 1.156 Personen einen Kommentar abgegeben, da herrscht reges Interesse. Hier ist noch ein Überblick über die Meinungsseite und hier wieder der weiße, mit Raute gekennzeichnete Bereich als Zeichen für nicht originär journalistische Beiträge.

Der Bereich UGC ist ein eigener Bereich, rund 20 Kolleginnen und Kollegen arbeiten dort. Das Ziel ist, mehrere Artikel pro Tag online zu stellen und Userblogs zu betreuen. Wir hatten vor kurzem einen Archäologie-Blog, der zu unserer Überraschung wunderbar funktioniert hat. Live-Ticker, Live-Berichte als Formate, Chats sind auch etwas, was wir sehr häufig anbieten. Manchmal auch kurzfristig, wenn wir merken, ein Thema interessiert besonders. In Zusammenhang mit der Eurokrise haben wir kurzfristig einen Chat im Zusammenhang mit dem Korrespondenten in Athen organisiert.
Userdiskussionen, ein Format ‚Mitreden‘, das ist vor allem im Familienbereich etwas, das gut funktioniert. ‚Quiz‘ und ‚Umfragen‘ sind Rubriken, die Sie wahrscheinlich auch von anderen Medien kennen.

Natürlich sind wir auch im Social Media Bereich aktiv. Wir haben bei Facebook: 230.000 Fans, bei Twitter 150.000 und bei Google+ 30.000 Followers, bei Instagram 18.000 Abonnenten. Neu ist unser Whatsapp-Service, das machen wir erst seit kurzem; es funktioniert wunderbar und wächst extrem. Wir bieten einen Nachrichtenüberblick am Morgen; dazu gibt es Whatsapp-Services, die man abonnieren kann – für den Bereich Web und Etat. Das sind zwei Bereiche, in denen wir eine sehr große Redaktion haben. Bei Whatsapp haben wir derzeit 15.000 Abonnenten.

Auch von außen wird uns bescheinigt, dass wir eine große Diskursfreudigkeit haben: eine Studie, die die Rundfunk- und Telekom-Regulierungsbehörde in Auftrag gegeben hat, um das crossmediale Qualitätsniveau in Österreich zu überprüfen, zeigt, dass Der Standard und DerStandard.at sehr stark als Diskursmedien wahrgenommen werden. Und, das ist mir auch wichtig, bestätigt diese Studie: Wir schaffen das mit Hard-News und brauchen keine Katzenbilder oder Soft-News, wie es einige Onlinemedien in Deutschland – durchaus erfolgreich – probieren. Der Standard und DerStandard.at sind führend, was den Anteil von Hard-News betrifft.
Der Bereich Business Intelligence hilft uns zu wissen, wann unsere User online was haben wollen. Wir versuchen das zumindest mengenmäßig in einem Diagramm abzubilden. Wir bemühen uns täglich in der Redaktion das hinzukriegen.

Wir sind dazu übergegangen, dass wir nicht die Clicks oder die Visits als das Maß aller Dinge nehmen, sondern die Verweildauer. Diese Grafik zeigt das Wachstum in den Jahren 2014 bis 2016. Im August 2013 haben wir die Redaktionen zusammengelegt; seitdem ist die Verweildauer gestiegen. Es ist also auch redaktionell eine Erfolgsgeschichte. Im Printbereich sind wir als Qualitätsmedium auf einer geringeren Reichweite, aber online sind wir tatsächlich von allen Angeboten, die aus einem Verlagshaus kommen, die Nummer 1. In absoluten Zahlen sind wir die Nummer 2, gleich hinter ORF.at – dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk, der in Österreich sehr stark ist. Wir haben eine Reichweite, die mehr als 25 Prozent im Online-Bereich beträgt, also online sind wir tatsächlich ein Riese.

Noch einige Zahlen: 17 Prozent der Visits kommen bei uns über Google. Im Februar waren sieben Prozent der Visits von Facebook. Wenn man die Verweildauer hernimmt, sind diese Zahlen sehr viel geringer, über Google sieben Prozent und zwei Prozent über Facebook. D. h. die Marke derStandard.at ist sehr stark, der größte Teil der Leser kommt direkt auf unsere Seite, nicht über Google und Facebook, was mit dem Medienmarkt in Österreich zu tun hat. Auch im Printbereich haben wir uns verjüngt, da hat Der Standard das jüngste Durchschnittsalter der Tageszeitungsleser. Wir haben uns zweimal, in meiner Zeit insgesamt sogar dreimal verjüngt. Die graue Linie zeigt das Wachstum aller Tageszeitungsleser, „Presse“ und „Kurier“ sind die direkten Konkurrenten. Ich gehe davon aus, dass die Zeitung weiterbestehen wird und wir das Wachstum der Reichweite fortsetzen können. Im Vergleich können wir uns durchaus sehen lassen. Österreich ist ein kleines Land, aber wir haben konstant eine Reichweite von über fünf Prozent.

Und zum Schluss bewusst ein leeres Slide, weil ich glaube, dass jeder seinen eigenen Weg finden muss. Wir haben bewusst unseren Weg gewählt, wir stehen den Facebook-Kooperationsangeboten sehr skeptisch gegenüber und sind nicht dabei. Bei Google versuchen wir eine Zwitterhaltung einzunehmen, ich war im Dezember beim ersten Treffen von Chefredakteuren und führenden Medienmanagern in Silicon Valley dabei, das Google im Rahmen der News Initiative einberufen hat. Wir schauen uns das an, aber es ist nicht so, dass wir überall mitmachen und manches auch ganz bewusst nicht machen wollen. Wir waren bei vielen Dingen führend, schnell dabei, aber jetzt ist es so, dass wir uns bei vielen Sachen Gedanken machen und uns fragen, was schadet uns möglicherweise auf längere Sicht. Wir betrachten viele Entwicklungen lieber erst, bevor wir mitmachen.