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Archiv 2012 „Netz-Verfassung”

programm-2011

Schlussfolgerung
Digital-Politik oder: Versagen durch Unterlassung

Götz Hamann, Die Zeit

Ich bin jetzt derjenige, der die Debatte heute zusammenfassen will, soll und wird. Ich bitte Sie deshalb, mit mir eine Reise in den Golf von Mexiko zu machen: Dort ist vor einigen Jahren Öl ausgelaufen und gestern, am 18. April 2012, hat der britische Ölkonzern BP zugestimmt, 7,8 Milliarden Dollar zu zahlen, plus 600 Millionen Dollar Anwaltsgebühren, plus einen Betrag X, den er schon gezahlt hatte, plus einen Betrag Y, den er irgendwann an die US-amerikanische Bundesregierung wird zahlen müssen. Dieses Ereignis ist für mich der Dreh- und Angelpunkt der Gedanken und meine Perspektive auf die Debatte heute: Ich bin der Auffassung, dass wir aus der Umweltpolitik eine Menge lernen können. Voraussetzung für die Überweisung von 7,8 Milliarden Dollar ist ein Konsens darüber,
  • dass Umweltverschmutzung ein Problem ist
    *- dass der Wohlstand des Einen nicht die Zerstörung der Lebensgrundlage des Anderen oder dessen ernsthafte Beschädigung bedeuten darf
    *- dass es ein Schadenersatzrecht gibt
    *- dass Schadenersatz gezahlt wird, der den Namen verdient
    *- dass es inzwischen ein funktionierendes Völkervertragsrecht zu diesen Fragen gibt
    *- dass, wer große ökonomische Interessen hat in einem Land, aus dem er nicht stammt oder in dem nicht der Stammsitz des Unternehmens ist, bereit ist, sich auf Debatten in einem anderen Land einzulassen, um seine ökonomischen Interessen zu wahren.
    *- Und ganz allgemein, dass es Themen gibt, die alle Lebensbereiche durchdringen können und in diesem Sinne unser Leben verändern können und damit Tausende von Gesetzen.

Der Vergleich, der mit BP geschlossen worden ist, ist das Ergebnis von 40 Jahren Auseinandersetzung mit den Grünen oder mit den Ideen, die zu ihrer Gründung geführt haben. Er ist das Ergebnis von 40 Jahren ‚Trial and Error‘ in der Umweltpolitik.

Wieso erzähle ich das? Weil es in meinen Augen der Maßstab für das ist, wie wir unsere aktuelle netzpolitische Debatte bewerten sollten, welche Perspektiven wir entwickeln und welche Erwartungen wir daraus ziehen sollten – im Guten wie im Schlechten. Ich glaube, der Konsens war da und ich kann in dem Sinne auch nichts so recht hinzufügen. Jenseits von Terrorbekämpfung mit eCommerce erleben wir in Berlin über weite Strecken ein Versagen durch Unterlassen. Wir haben vor einem Jahr gesagt, wir brauchen endlich die Überarbeitung und Vollendung des Urheberrechts, wir brauchen einen neuen Konsens in der Vorratsdatenspeicherung, wir haben über Netzneutralität diskutiert und tun das noch immer, der Jugendmedienschutz hat eine neue Form finden sollen, aber nicht gefunden. Wir haben Debatten, aber keine Ergebnisse mit Blick auf ein internationales Cyberstrafrecht, wir haben im Netz ja gerade die aktuellen Debatten, die das alles wiederkäuen und trotzdem zu keinem Ergebnis kommen. Mal sehen, ob wir zwischen Nordrhein-Westfalen-Wahl und Nominierung der Spitzenkandidaten für die Bundestagswahl noch eine Lösung in Sachen Vorratsdatenspeicherung erleben. Ich bin mir nicht sehr sicher.

Woher kommt dieses Verharren, dieses Nicht-Handeln? Einer der Gründe, denken Sie bitte nochmal an BP und die Vorgeschichte, ist, dass netzpolitische Fragen, auch das ist hier gesagt worden, uns vor die Tatsache stellen, dass viele Dinge national und eine ganze Reihe von Fragen international geregelt werden müssen; die Kunst darin besteht, das eine vom anderen zu unterscheiden und danach zu handeln. Diese Kunst beherrschen diejenigen, die sich mit Netzpolitik beschäftigen, nur rudimentär. Wie gesagt, im Falle eCommerce und der Terrorbekämpfung haben sie sich schon sehr reingekniet, das macht sich auch an den Strukturen der Ministerien deutlich. Das ist, wenn man so will, die Unterfütterung der Ministerien mit den entsprechenden Fachleuten. Also diese 500 bis 1.000 Beamte sollte sich ein Land leisten, das ernsthaft über Netzpolitik diskutieren will.

Wo stehen wir heute in der Netzpolitik?
Wir haben gehört, geniale Anarchos haben das Netz geschaffen, sie wurden von Unternehmen verdrängt und inzwischen ist die Vermachtung des Netzes so weit fortgeschritten, dass Konzerne, Diktaturen und Populisten – auch in westlichen Ländern – zu einer ernsten Gefahr für freie Informationsflüsse, die freie Meinungsbildung und die freie Meinungsäußerung geworden sind. Wir können uns, glaube ich, heute alle nicht mehr vorstellen, dass wir ohne das, was wir heute haben, im Hier und Jetzt, also im 21. Jahrhundert, leben können. Und insofern bin ich derjenige, der einerseits glücklich ist, dass so etwas heute hier stattfindet, andererseits aber auch enttäuscht ist, denn wie weit sind wir? Die CDU hat einen Arbeitskreis, bei ver.di hat es die Netzpolitik auf Referatsleiterebene gebracht, die wissenschaftliche Debatte findet im Ausland statt, an Fachhochschulen oder in Doktorandenkolloquien. Das ist mir zu wenig. 15 Jahre, nachdem das Internet ein Massenmedium geworden ist, hätte ich mir mehr gewünscht und wünsche mir mehr in Bezug auf die Fortentwicklung. Wenn ich nach Berlin schaue, fühle ich mich an eine Primarschule versetzt. Ich kann es leider nicht anders formulieren. Die Enquete-Kommission erzieht den Bundestag und teilweise die entsprechenden Abgeordneten sich selbst. Die digitale Gesellschaft ist so eine Art Nachhilfeunterricht von außen. Man trifft sich dann zum Erfahrungsaustausch der externen Nachhilfelehrer, demnächst wieder auf der re:publica. Wir haben in den Parteien die D64 (SPD), die Digital-Liberalen (FDP) und das cnetz (CDU). Das ist alles wunderbar, aber es sind eben alles auch erst Anfänge. Und selbst die Piraten gehören in diesen Kontext. Sie sind so etwas wie der Musiktherapeut, der aus einer Klasse von schwer Erziehbaren eine Band formen soll – damit sie dann aber später nicht nur Musik machen und Profimusiker werden, sondern besser lesen lernen. Im übertragenen Sinne, jenseits der zentralen Themen der Piraten eben all die tausend Fragen der Netzpolitik besser werden lösen können, als sie es heute können.

Was heißt das?
In ein paar Jahren wird sich erweisen, wenn alles gut geht, dass Urheberrecht und Datenschutzdebatte kathartisch waren. Schön wär’s! Vielleicht brauchen wir auch erst noch eine echte Katastrophe. Der Siegeszug der Grünen und das Trial and Error-Prinzip in der Umweltpolitik wären ohne den Impuls durch Tschernobyl und Bhopal und Sandoz nicht mit jener Macht denkbar gewesen. Viktor Mayer-Schönberger sprach von einem constitutional moment – zunächst würde ich behaupten, brauchen wir ein konstituierendes Ereignis. Ist es die Datenschutzdebatte, ist es das Urheberrecht, sind es die Wahlerfolge der Piraten oder müssen wir warten auf so etwas wie eine Art Armageddon? Es ist nichts, was mit dem Netz zu tun hat, sondern die Frage an die menschliche Lernfähigkeit. Aber solange ich das eine nicht habe und vor mir sehe, nehme ich Debatten wie die heute als den positiven Teil eines muddling through, eines Durchwurstelns. Das unterscheidet tatsächlich das Jahr 2012 von dem Jahr 2010; da hatten wir weder diese Debatten noch die Experten in den Parteien in der Form gehabt.

Das heißt, wir bewegen uns voran, auch gar nicht so langsam, so klein ich das Zwischenergebnis vor ein paar Minuten auch erst einmal gemacht habe.
Jetzt komme ich zu den zwei Punkten, die inhaltlich den heutigen Nachmittag bestimmt haben. Das eine ist die Frage der digitalen Grundwerte. Sie gilt es fortzuentwickeln – das ist eine allgemein anerkannte Notwendigkeit. Die Frage, wie das geschehen soll, in welchem institutionellen Rahmen, sie ist gestellt, sie ist aber nicht beantwortet worden. Ich würde gern noch zwei, drei Sätze dazu verlieren. Natürlich folgten auch eine amerikanische Verfassung und ein Grundgesetz kathartischen Ereignissen nach, aber sie sind zugleich nicht im luftleeren Raum entstanden, sondern haben an Rechtstraditionen und an dogmatische Debatten angeknüpft. Insofern gibt es nichts, worauf wir aus einer inhaltlichen Perspektive warten sollten. Eine Debatte um digitale Grundrechte existiert, wir sollten sie führen. Jetzt. Auch wenn sich die Welt weiterdreht. Wenn ich mir etwas wünschen dürfte, dann, dass in Frankfurt, wo vor mehr als vier Jahrzehnten die Keimzelle der grünen Partei lag, jemand ein bisschen Geld in die Hand nimmt und ein Mash-up aus europäischem Verfassungskonvent, Bundesversammlung und Liquid Feedback veranstaltet. Und zwar über einen Zeitraum, der überschaubar ist, ohne die Erwartung, dass es dann ein endgültiges Ergebnis steht – genauso wenig wie der Bericht des Club of Rome ein endgültiges Ergebnis war und doch eine Wegscheide in der Debatte. Und so habe ich, ehrlich gesagt, auch den Beitrag von Viktor Mayer-Schönberger verstanden. Auch nach Erfahrung in der Debatte um eine europäische Verfassung wäre es illusorisch, zu glauben, jetzt innerhalb kürzester Zeit zu einem Ergebnis zu kommen, was Rechtscharakter hat. Aber wir könnten versuchen, uns einen Common Ground zu schaffen im Diskurs, aber der braucht einen Rahmen und den hier zu schaffen, ist jeder aufgerufen, der sich in der Lage und finanziell mächtig fühlt.

Daneben hätte ich es gern – und das ist der zweite Teil der Debatte – in Europa und in Berlin ein bisschen mehr hands on. Facebook wurde als Stichwort genannt. Viktor Mayer-Schönberger hat ein geniales Argument, das er in die deutschsprachige Debatte eingeführt hat, heute nicht gebracht, deshalb tue ich es: Fünf Firmen stehen für 70 bis 80 Prozent des internationalen Informations- oder Datenverkehrs. Ist es zu viel verlangt, sich mit fünf Unternehmen auseinanderzusetzen, deren Technologie zu lernen, deren Art, mit Daten umzugehen zu verstehen und sich dann damit auseinanderzusetzen? Fünf Unternehmen, für die Deutschland einer der wichtigsten Märkte ist, wo es eindeutig ist, dass es in deren Interesse ist, sich mit uns ins Benehmen zu setzen? Da muss man nicht von der Globalität des Netzes reden, um 70 bis 80 Prozent der zumindest internationalen Datenflussfragen konkret anzufassen und sich damit zu beschäftigen. Da ist Politik machbar und es wäre – hands on – an der Zeit.

Natürlich ist Facebook für sehr viele Menschen inzwischen eine Art Grundversorgung geworden. Da kann man, wie Peter Tauber es getan hat, nicht sagen „Dann geh‘ da nicht hin“. Das kann man nicht mehr. Das kann man bei What’s App sagen, das kann man bei anderen Dingen sagen, aber nicht mehr bei Facebook und auch nicht bei Google. Wenn wir aber dieser Auffassung sind, dann müssen wir uns damit auseinandersetzen.

Was ist – das habe ich bei den Podiumsteilnehmern vermisst, das würde ich Ihnen als Frage mitgeben, das würde ich gern hören – Ihr großes Projekt – hands on – 2012? Das gilt für ver.di, das gilt für die CDU, das gilt für Jan Philipp Albrecht und das gilt auch für Pascal Schumacher. Bei ihm ist es wahrscheinlich seine Habilitationsschrift, insofern ist das geklärt. Herr Albrecht, Sie wissen mehr als 99 Prozent aller deutschen Politiker über das Netz, sie sind vernetzter als 99 Prozent, aber – verdammt noch mal – Sie sind in der deutschen Debatte nicht wirklich zu hören. Das ist einfach eine Verschwendung, das hätte ich gern anders, wenn ich eine Bitte äußern dürfte.

Und mit Blick darauf, was die großen inhaltlichen Themen sind, Frau Mühlberg, Sie haben einige genannt. Mit Blick auf Arbeitnehmer sind Tausende von Fragen auf nationaler Ebene zu regeln, das ist das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ausgestaltet im Alltag der Unternehmen, der Behörden, im Miteinander. Da muss man auch nicht das Netz absperren, da muss man einfach Unternehmen und ihren Datenschutzbeauftragten und Behörden ein bisschen auf die Finger schauen, damit nicht dauernd das passiert, was uns Anonymus vorgeführt hat, dass es nämlich überall in diesen Institutionen Verantwortungslose und ziemliche Loser an den entscheidenden Stellen gibt. Was hat uns Anonymus gezeigt? Es gibt ein enormes Vollzugsdefizit, es gibt keine ökonomischen und keine sonstigen Anreize, sich damit wirklich zu beschäftigen. Die Schwächen abzustellen. Und hier können Sie den Bogen zum Anfang, zu BP ziehen. Hier sehen Sie, wie weit die Netzpolitik noch kommen muss, um zur Umweltpolitik aufzuschließen.

Als Wunsch an Peter Tauber hätte ich, dass er sich um all die Stichworte, die er selbst genannt hat, kümmert: Onlinebanking, mobile banking, sichere Infrastruktur, Schutz von Geschäftsgeheimnissen, Abwehr von Cyberangriffen. Das ist die alltägliche Sicherheit im Netz und die hat auch nichts damit zu tun, was in Burkina Faso passiert, zumindest meistens nicht. Manchmal schon, aber meistens nicht. Und es wäre mir eine große Freude, wenn er sich in der CDU darum kümmern würde, da die Piraten ja derzeit dafür sorgen und die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass die CDU noch bis 2017 regiert. Vielen Dank.