Archiv 2021 "Netzgesellschaft – reloaded"
Pressemitteilung
„Medienkompetenz geht uns alle an.“
Netzgesellschaft – reloaded. Wie die gesellschaftliche Selbstverständigung wieder gelingen kann
Frankfurt am Main, 22. Juni 2021. Wir leben in einer fragmentierten Netzwerkgesellschaft, der mehr (digitale) Kommunikationskanäle und Plattformen als je zuvor zur Verfügung stehen. Dennoch deuten empirische Forschungsergebnisse darauf hin, dass sich viele „overnewsed but underinformed“ fühlen, dass Partizipationspotenziale an mangelnder Medienkompetenz zu scheitern drohen, dass Desinformationen unser politisches Meinungsklima bedrohen und dass in Teilen der Bevölkerung das Vertrauen in staatliche Institutionen, in Medien und den Journalismus sinkt. Umso wichtiger werden neue Modelle für die Gestaltung öffentlicher Kommunikation. Dringend erforderlich sind neue Konzepte der Medienpädagogik und -regulierung, also neue Formen der Kommunikation und der Kommunikationsordnung. Das wurde beim 12. lpr-forum-medienzukunft am 22. Juni deutlich. In der Evangelischen Akademie Frankfurt und online (via Zoom) setzten sich mehr als 200 Teilnehmerinnen und Teilnehmer mit Ideen für eine zivile Netzgesellschaft der Zukunft auseinander.
Der Direktor der LPR Hessen, Joachim Becker, betonte zum Auftakt des lpr-forum-medienzukunft im Gespräch mit Tagungsmoderatorin Ingrid Scheithauer, eine Regulierung, wie sie der neue Medienstaatsvertrag für Intermediäre, Plattformen und journalistisch-redaktionell gestaltete Telemedien-Angebote vorsehe, sei allein nicht ausreichend. Wichtig im digitalen Zeitalter seien außer der Netzwerkkompetenz auch Medienkompetenz und Partizipation. Dass, wie aktuelle Studien zeigen, fast die Hälfte der Mediennutzer Informationen nicht verstehen, Nachrichten nicht einordnen oder nicht entschlüsseln könnten, habe ihn „ein bisschen erschrocken“, sagte Joachim Becker. Dringend erforderlich für das Leben in der redaktionellen Gesellschaft, in der „wir alle Sender“ sein können, seien deshalb Projekte, die Nachrichtenkompetenz vermitteln, sowie Lehreraus- und -fortbildungen. Problematisch sei es außerdem, wenn Teile der Bevölkerung das Gefühl hätten, dass Themen, die sie beschäftigen, von Medien nicht behandelt würden. „Journalisten müssen sein, wo ihre Zielgruppe ist“, empfahl der LPR-Direktor.
Mit der Frage, wie sich Partizipation und ein souveräner Umgang mit digitalen Medien für junge Nutzerinnen und Nutzer vermitteln lassen, beschäftigt sich Sandra Cortesi, Director of Youth and Media des Berkman Klein Center for Internet and Society an der Harvard University in Cambridge. Sie unterstrich, live via Zoom zugeschaltet, die Vermittlung von Medienkompetenz sei nicht nur eine Aufgabe für Schulen. Vielmehr müsse sich die gesamte Gesellschaft ständig um lebenslanges Lernen und Aufklärung im Umgang mit digitalen Medienangeboten kümmern. Eine Analyse von 45 Konzepten weltweit habe 17 zentrale Bereiche identifiziert, die von der Inhalteproduktion über Datensicherheit bis zur Informationsqualität reichen. Wichtig seien auch Themen wie die algorithmische Verteilung von Informationen durch Künstliche Intelligenz oder die Funktionsweise digitaler Geschäftsmodelle. Das alles aber lasse sich nicht allein im Schulunterricht vermitteln. Sandra Cortesi ermunterte zu außerschulischen Projekten und verwies auf Beispiele wie die Youth Labs des Verlages Tamedia (Tagesanzeiger, 20 Minuten) in der Schweiz. Wichtig sei dabei eine aktive Partizipation, die über einen passiven Medienkonsum hinausgehe.
Wie ein praxisorientierter Umgang mit Medien aussehen kann, schilderte per Zoom-Videoschaltung Kerstin Schröter. Die gelernte Journalistin und Lehrerin (Deutsch, Gesellschaftskunde) erläuterte, wie sie in Hamburg in den Schuljahren 8 bis 13 im Rahmen journalistischer Projekte einen kritischen Umgang mit digitalen Medien vermittelt. Dabei sollen Schülerinnen und Schüler beim Recherchieren Informationen verarbeiten und Nachrichten verstehen, um sie schließlich in Form von Podcasts oder Videos an andere weiterzugeben. Allerdings sei es schwierig, in den Lehrplänen genügend Freiräume für solche Projekte zu finden. Außerdem fehle es vielen Kolleginnen und Kollegen selbst an Wissen, um auf diese Art Medienkompetenz zu vermitteln, berichtete Kerstin Schröter. Sandra Cortesi bezeichnete deshalb die Weiterbildung von Lehrkräften als wichtig. So könne etwa das Thema KI im Mathematikunterricht thematisiert oder über digitale Ökonomie im Geschichtsunterricht gesprochen werden.
Anna-Katharina Meßmer, Projektleiterin Digitale Nachrichten- und Informationskompetenz der Stiftung Neue Verantwortung, wurde aus Berlin zugeschaltet. Sie argumentierte, Medienkompetenz müsse jungen Menschen für die unterschiedlichen Altersgruppen und Bildungsmilieus sehr unterschiedlich vermittelt werden. Im Rahmen der Studie „Quelle: Internet?“ habe sich gezeigt, dass diejenigen, die mit anderen über Nachrichten diskutieren würden, meist auch recht nachrichtenkompetent seien. Außerdem gelte, dass jüngere Rezipientinnen und Rezipienten ein größeres Medien-Set nutzen. Meinolf Ellers, der für die digitale Strategie der Deutschen Presse-Agentur (dpa) zuständig ist, wies in diesem Zusammenhang auf Ergebnisse des dpa-Projektes #UseTheNews hin. Demnach handle es sich bei je einem Viertel der 14- bis 24-Jährigen um journalistisch Informierte mit hoher Nachrichtenkompetenz, um allgemein Informationsorientierte, die auch nichtjournalistische Quellen nutzen, um Anhänger der „News-will-find-me-Philosophie“ oder um Nutzerinnen und Nutzer ohne Informationsinteresse.
Bei den Expertinnen und Experten des lpr-forum-medienzukunft herrschte Einigkeit darüber, dass die gesellschaftliche Selbstverständigung darüber, wie wir miteinander kommunizieren wollen, nur gelingen kann, wenn eine Regulierung digitaler Plattformen um zivilgesellschaftliche Prozesse ergänzt wird. So warnte etwa der Kommunikationswissenschaftler Otfried Jarren davor, die Personalisierung und Individualisierung der Mediennutzung führe dazu, dass eine gesamtgesellschaftliche Verständigung über Normen und Werte kaum noch möglich sei. Ein vermeintlich individueller Vorteil dürfe am Ende nicht zum Nachteil für die gesamte Gesellschaft werden. Deshalb plädierte Otfried Jarren für ein „kollaboratives Gestalten“ unserer Netzwerkgesellschaft. Dabei lautete sein kategorischer Imperativ schlicht: „Medienkompetenz geht uns alle an.“
Matthias Kurp
Matthias Kurp ist Professor an der HMKW Hochschule für Medien, Kommunikation und Wirtschaft in Köln
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